Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Amerika hat nichts gelernt

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
die Geschichte ist kein guter Freund, der uns mit Ratschlägen weiterhilft. Die Historie täuscht, trickst uns aus, manchmal lügt sie wie gedruckt. Seitenlang lassen sich die Ähnlichkeiten vergangener Zeiten mit der Gegenwart ausbreiten, während die entscheidenden Details in unscheinbaren Fußnoten verschwinden.
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Warum ich diesen Gedanken heute notiere? Weil die Vergangenheit sich zurückmeldet – zum Jahrestag eines Epocheneinschnitts, der aufschlussreich für die Gegenwart zu sein scheint. Trügt der Schein?
Das Grundmuster dieser Geschichte kennen wir schon, seit David gegen Goliath antrat: Eine waffenstarrende Supermacht, in deren Lagern sich die Atomwaffen türmten und die eine Maschinerie der Zerstörung ohnegleichen entfesseln konnte, hatte ihre Schlachten erwartungsgemäß gewonnen, aber den Krieg trotzdem verloren. Ein Zwerg, im Vergleich jedenfalls, mit seiner spartanisch ausgestatteten Armee, die ihr Schuhwerk mitunter aus alten Autoreifen zusammenschusterte, hatte den Giganten ausbluten lassen und seiner Kraft beraubt. Als das Kräftemessen zu Ende ging, war der Machtbereich des Riesen auf so wenige Quadratmeter zusammengeschnurrt, dass am Boden kein Hubschrauber mehr genug Platz zum Landen fand. Um die Nachhut zu evakuieren, musste der rettende Helikopter auf einem Hausdach aufsetzen. Der letzte Flug aus Saigon, vom Gelände der amerikanischen Botschaft, wurde zum Schlussakt der langen Niederlage Amerikas in Vietnam.
Die kleinen Tricksereien der historischen Erinnerung beginnen schon hier. Das berühmte Foto der Evakuierung ist tatsächlich anderswo in Saigon und schon am Tag vorher aufgenommen worden. Am Ergebnis gab es dennoch nichts zu deuteln. Der südvietnamesische Staat, ein labiles Gebilde, das nur am Tropf der US-Hilfe lebensfähig war, hatte dem Ansturm der Kommunisten die Stirn bieten sollen. Heute vor 50 Jahren verschwand es von der Landkarte. Ganz Vietnam wurde kommunistisch rot.
Das Trauma der Niederlage trieb den USA für viele Jahre das Bedürfnis aus, anderswo auf dem Globus militärisch einzugreifen. Große Interventionen und solche, in die man sich ungewollt verstricken konnte, blieben tabu. Erst anderthalb Jahrzehnte später, in einer Welt, die nach dem Fall der Mauer nicht mehr wiederzuerkennen war, trauten sich Befehlshaber und Politiker, im Nahen Osten mit eng gesteckten Zielen gegen den irakischen Diktator Saddam Hussein zu Felde zu ziehen. Im Vorfeld wurde die Gefahr eines neuen Vietnams oft beschworen.
Doch als sich die Unkenrufe nicht bewahrheiteten, schwang das Pendel zur Siegesgewissheit zurück. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 folgten zwei weitere Kriege, erst in Afghanistan, dann wieder im Irak. Das wiederhergestellte Selbstbewusstsein im Pentagon machte sich dabei schnell bemerkbar. Schlampige Planung, falscher Optimismus, unklare Ziele, mangelndes Verständnis kultureller Eigenheiten: Das ganze Spektrum des Versagens in Vietnam meldete sich erneut zum Dienst.
Das Scheitern folgte. Der schleichende Rückzug hatte für Vietnam-Veteranen Wiedererkennungswert. Das Foto eines startenden US-Transportflugzeugs in Kabul, an dessen Fahrwerk sich verzweifelte Afghanen klammern, ging als Symbol der Niederlage um die Welt. Es trat die Nachfolge des Hubschraubers auf dem Dach in Saigon an.
Es ist verlockend, dem Bild vom Pendel zu erliegen, das zwischen Zuwendung und Abkehr von der Außenwelt hin und her schwingt. Nach den "ewigen Kriegen", wie die Amerikaner sie nennen, und ihrem unrühmlichen Ende sind wir nun bei den Trumpisten und ihrer Parole "Amerika zuerst" gelandet. Die haben für den Rest der Welt wenig übrig, wollen Konflikte anderswo möglichst schnell loswerden – egal, wie – und schauen bei überseeischen Aktivitäten vor allem auf die Dollars, die das Engagement unerfreulicherweise kostet. Man könnte meinen, bei den Amerikanern sei nach einer Zeit als forscher Weltpolizist jetzt wieder eine Phase der Selbstbeschäftigung an der Reihe – der nächste Ausschlag des Pendels eben. Doch bei genauerem Hinsehen wird klar, dass das Pendel die Richtung geändert und eine grelle neue Lackierung bekommen hat.
Denn das, was sich gegenwärtig in Washington zusammenbraut, ist mit einem Rückzug ins Innere nicht passend beschrieben. Stattdessen basteln Trump und seine Leute an einer Weltordnung, in der die amerikanische Pfeife laut und deutlich zu vernehmen ist – vor allem, wenn es ans Zahlen geht. Bei den Zöllen sind die Ellenbogen weiter als jemals zuvor ausgefahren, Präsidenten wie Selenskyj werden wie Schuljungen abgekanzelt, und ohne demütige Huldigungen kommen Staats- und Regierungschefs im Weißen Haus nicht weit. Zugleich stehen Deals mit Diktatoren wie Putin und Xi ganz oben auf der Wunschliste des Chefs. Man sieht: In Trumps Amerika steht die Tür zur Außenwelt weiterhin weit offen. Darüber ist bloß ein neues Schild angebracht. Dort steht jetzt: Lieferanteneingang.
Der Zampano in Washington trägt damit nicht zur Aufpolierung des amerikanischen Images bei. Doch das sah 50 Jahre vorher auch nicht besser aus. Der Krieg in Vietnam hat kräftig dazu beigetragen, Anti-Amerikanismus auch bei Amerikas Alliierten salonfähig zu machen. Bilder von Napalm-Opfern gingen um die Welt. Der großflächige Einsatz von Agent Orange entlaubte den Dschungel und vergiftete die Bevölkerung, noch heute kommen Kinder mit Missbildungen auf die Welt. Massaker wie im Dorf My Lai kamen ans Licht, wo GIs Hunderte Menschen ermordeten, vom Baby bis zum Greis.
Die Welt bekam in dieser Zeit die hässliche Fratze der amerikanischen Supermacht zu sehen. Die Karikatur, die Trump aus seinem Land gemacht hat, wirkt im Vergleich dazu fast freundlich. Prägen wir uns das Bild besser gut ein. Denn heute jährt sich nicht nur das Ende des Schreckens in Vietnam. Wir passieren zugleich eine weitere Wegmarke: Hundert Tage ist Trump seit gestern im Amt. Er legt gerade erst richtig los. Die Geschichte scheint keine Lehren mehr für uns zu haben. Womöglich ist ihr auch schon schwindelig.
Was steht an?
Die SPD gibt das Ergebnis ihres Mitgliedervotums über den Koalitionsvertrag mit der Union bekannt. Rund 358.000 Parteimitglieder durften online abstimmen. Stimmt die Basis trotz mancher Bedenken zu, steht der Regierungsbildung nichts mehr im Weg.
Das Kabinett von Noch-Kanzler Olaf Scholz tritt zu seiner letzten Sitzung zusammen. Zu entscheiden hat es nichts mehr, aber vielleicht werden ein paar Blumen verteilt. Anschließend jettet Scholz zum Abschiedsbesuch nach Paris. Am kommenden Dienstag soll die neue Bundesregierung vereidigt werden. Dann ist auch die Rest-Ampel Geschichte.
Das Landgericht Frankfurt am Main gibt vermutlich die Einstellung des Verfahrens in der Sommermärchenaffäre bekannt. Angeklagt ist der Ex-Präsident des Deutschen Fußballbunds, Theo Zwanziger. Bei der Anbahnung der Fußballweltmeisterschaft 2006 sollen falsche Steuererklärungen abgegeben worden sein, um Schmiergeldzahlungen zu vertuschen.
Mit einem Eröffnungsgottesdienst beginnt in Hannover der 39. Evangelische Kirchentag. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil geben sich die Ehre, ein Schwerpunkt soll angesichts von Populismus und gesellschaftlicher Spaltung die gemeinsame Suche nach einer stabilen demokratischen Basis sein. Ex-Kanzlerin Angela Merkel und Noch-Kanzler Olaf Scholz kommen im Laufe der Woche, Bald-Kanzler Friedrich Merz hat anderes zu tun.
Zahl des Tages
52 Prozent der amerikanischen Wähler halten Donald Trump für einen "gefährlichen Diktator, dessen Macht begrenzt werden sollte". Das ist das Ergebnis einer Umfrage des Portals "Axios". Die Frage sei erlaubt, warum die Mehrheit dann diesen Typen gewählt hat.
Ohrenschmaus
Kennen Sie Songs, deren Schluss das Beste ist? Dieser hier ist so einer.
Lesetipps
Die 100 ersten Trump-Tage waren laut, autoritär – und gefährlich. Während seine Regierung demokratische Institutionen umbaut, bleiben zentrale Wahlversprechen auf der Strecke, kommentiert unser USA-Korrespondent Bastian Brauns.
Vergessen CDU, CSU und SPD bei der Regierungsbildung Ostdeutschland? Die bisherige Ministerauswahl sorgt für Kritik. Noch aber gibt es Chancen, berichten meine Kollegen Annika Leister und Johannes Bebermeier.
Erstmals in seiner mehr als 60-jährigen Karriere heuert Schlagersänger Heino für ein festes Engagement am Ballermann an. Erstaunlicher Wandel oder konsequente Karriereplanung? Mein Kollege Steven Sowa horcht nach.
Zum Schluss
Alles strahlt.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Mittwoch und einen noch schöneren Feiertag. Fast überall scheint die Sonne! Am Freitag kommt der Tagesanbruch von unserem Chefreporter Johannes Bebermeier, am Samstag hören Sie wieder von mir.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: [email protected]
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Mit Material von dpa.